TUN OHNE ZU TUN ODER DAS ENDE DES SICH BESCHÄFTIGTHALTENS

5. März 2021

„Wie war´s denn in Indien beim Retreat?“ wurde ich ab und zu nach meinem Aufenthalt im buddhistischen Dzogchenkloster gefragt. Eine Antwort auf diese Frage fällt mir nicht so leicht. Es scheint irgendwie die Dimension unseres normalen Sprachgebrauchs zu sprengen. Es ist nicht das übliche Skript möglich, wie nach einem „normalen Urlaub“ wo man gemeinhin wegfährt, um es sich mal richtig gut gehen zu lassen, um dann wieder eine Weile alltagstauglich zu sein. Ich könnte wahrheitsgemäß antworten: „Ich bin wieder bei Trost.“ Oder „Ich weiß wieder, worum es eigentlich geht.“ Aber das lässt sich nur schwer verstehen und würde für Irritation sorgen. Ein Erklärungsversuch: Mein Alltag zu Hause in unserer modernen westlichen Welt führt mich oft zu einem unfreiwilligen dauernden Gefühl von Beschäftigt sein. Anforderungen von anderen, Verpflichtungen des Lebensunterhalts, im besten Fall noch eigene Ideen umsetzen. Und obwohl es viele Tätigkeiten sind, die ich mag und die ich mir selbst ausgesucht habe, beschleicht mich nicht selten das Gefühl, mich überschlagen zu müssen, mich in einem Hamsterrad zu befinden, das ich nicht zu stoppen vermag. Ein Zustand von: Erst noch dieses oder jenes tun müssen, nie fertig zu werden mit Listen oder Aufgaben, selten wirkliche Ruhe zu finden. Wo mitunter selbst Meditation zu einer zu erledigenden Aufgabe wird.

Ein Dzogchenretreat ist für mich in etwa so, als ob ich aus dem Film im Kinosaal in den Vorführraum gewechselt hätte und sogar den Weg raus aus dem Kinogebäude finden kann. Im Vorführraum kann ich den Film noch immer sehen und auch mich selbst im Kinosaal beobachten, wie ich ganz von der Handlung des Films gefangen bin. Ich schaffe Abstand und kann ihn überhaupt mal als Film erkennen und meine Reaktionen wahrnehmen. Den Weg aus dem Kino kann ich erahnen, auch wenn es mir schwer fällt den Sog des Films wirklich zu verlassen. Sitzen doch da meine Liebsten und auch die anderen Zuschauer machen mir vor, wie gut man dem Film folgen kann.

Jetzt die Überraschung: Auch im Kloster ist man von früh bis spät beschäftigt und zwar nicht nur mit hochspirituellen Dingen wie Meditation oder Unterweisungen durch den Lama, sondern auch z.T. mit ganz weltlichen Dingen wie Abwaschen, Meetings oder das Bad putzen. Doch hier gelingt es mir deutlich häufiger, in stabile, innere Ruhe zu kommen, geerdet und ausgerichtet zu sein, weniger Zweifel zu haben.  Wie kommt dieser Unterschied zustande?

Die Anweisung im Dzogchen lautet: Tue gar nichts! Bitte nehmen sie sich einen kurzen Moment Zeit und beobachten Sie doch mal Ihren Geist bei dieser Anweisung. Tue gar nichts! Was ist ihre Reaktion? Unverständnis, Langeweile, Verärgerung, Angst, Erheiterung? Und jetzt lesen Sie doch gerne diesen Satz noch einmal mit ihrem Herzen (vorher einmal durchatmen): Tue gar nichts! Vielleicht spüren oder erkennen Sie einen Unterschied.

Es ist für die meisten von uns ungewohnt, uns nicht dauernd beschäftigt zu halten. Wir bemerken schon gar nicht mehr, wie sehr wir uns von unserem ursprünglichen Lebenssinn entfernt haben. Wir möchten uns so gerne verbessern: produktiver, schöner, schlauer, mitfühlender, gesünder, erfolgreicher. Wir meinen, wir müssten uns nur noch mehr anstrengen, mehr arbeiten, mehr kaufen, noch mehr Verpflichtungen erfüllen, damit wir endlich glücklich sind. Oder wir halten uns beschäftigt, um unseren Ängsten zu entfliehen oder sie vermeintlich in Schach zu halten. Diese Art das Leben zu führen, erzeugt Stress und macht uns krank. Wir selbst berauben uns unserer kostbaren Lebenszeit und halten uns von den Dingen ab, die wirkliche Bedeutung und Freude in unser Leben bringen könnten.

Tue gar nichts! Das bedeutet nicht, dass man nicht mehr sein Geschirr abwäscht, wenn es dran ist oder sein Bad putzt oder arbeitet. Es bedeutet soviel wie, tue es nicht, weil Du ein Ergebnis erwartest. Tue es nicht, um zu… Tue es nicht, ohne präsent im Moment zu sein. Es ist eine Anweisung für unseren Geist, das es nichts zu erreichen, nichts zu entwickeln und auch nichts zu tun gibt. Es gibt eben wirklich und wahrhaftig keinen Weg zum Glück, zur Zufriedenheit oder zum Frieden. Wir können nur glücklich, zufrieden oder friedlich sein, ohne Grund, ohne Bedingung oder Ergebniserwartung. Dann setzt eine köstliche Ruhe aus dem Herzen ein, die der Geist niemals herstellen kann.

Natürlich verfalle ich nach einiger Zeit zu Hause immer wieder darin, „den Film“ doch ernst zu nehmen und mich damit zu identifizieren. Ich pendle dann zwischen Kinosaal und Vorführraum. Mit den Jahren der Dzogchenpraxis wird es aber immer besser, den Vorführraum deutlich häufiger zu betreten. Ich erinnere mich immer häufiger daran, dass das Leben zu jedem Moment spirituell ist. Das erfreut mein Herz und gibt meinem Dasein Sinn. Vor allem aber, weil ich nicht mehr vergesse, dass es da diesen Weg aus dem Kino gibt.

Wenn ich Menschen vorschlage, Meditation in ihr Leben zu integrieren, höre ich oft: „Ja das wäre schön, aber dafür habe ich keine Zeit“ oder „Das schaffe ich nicht.“ Die Idee, den eigenen Zustand wichtig zu nehmen, fällt uns sehr schwer. Sind wir doch in unserer Beschäftigungsroutine meist derart gefangen, dass wir keine Irritation zu vertragen glauben. Erst wenn sich Krankheiten einstellen, körperliche oder seelische, sind wir bereit einzulenken. Versuchen es aber noch immer auf die gleiche Art und Weise: machen Meditation zu einem Punkt in unserer ohnehin schon vollen To-Do-Liste oder setzen uns als Persönlichkeitsentwicklungsziel entspannter zu sein,  anstatt unsere Prioritäten wirklich und wahrhaftig zu überprüfen und zu verändern, unsere Verpflichtungen zu reduzieren, langsamer zu machen. Mit der Weisheit unseres Herzens können wir Lebensentscheidungen treffen, die uns Raum für dauerhaften Sinn und Freude im Leben geben. So wie es schon immer unser sehnlichster Wunsch war.